„Trauma? Ich doch nicht! Traumatisiert sind doch nur jene armen Menschen, denen schreckliches widerfahren ist, wie Vergewaltigung oder Krieg oder Verlust der Eltern in jungen Jahren.“

So dachte ich viele Jahre, bis ich Dami Charf entdeckte und damit mit den Begriffen „Entwicklungstrauma“ und „Generationen übergreifendes Trauma“ in Berührung kam. Das Wissen über Trauma half mir, einige Dinge in meinem Leben besser zu verstehen und neu zu bewerten. Deshalb möchte ich dieses Wissen gerne mit Ihnen teilen.

Dami Charf ist Heilpraktikerin für Psychotherapeutin aus Göttingen. Ihr Blog www.traumaheilung.de ist eine wunderbare Fundgrube zum Thema Trauma mit zahlreichen Videos und Texten. Dami Charf erlaubte mir, jenes Wissen, dass ich über einen ihrer Online-Kurse erfahren habe, hier zur Verfügung zu stellen. Vielen Dank dafür!

Was ist Trauma?

Schocktrauma

Wenn wir von Trauma sprechen, meinen wir oft das sogenannte Schocktrauma. Darunter versteht man ein abgegrenztes, singuläres Ereignis, das die Bewältigungssysteme einer betroffenen Person völlig überfordert, sodass Hilflosigkeit und Ohnmacht entstehen. Beispiele für solcherlei Schock sind Unfälle, plötzlicher Arbeitsplatzverlust, unerwartete Trennungen, Gewalterlebnisse oder Naturkatastrophen.

Laut Peter Levine, einer der Pioniere der körperorientierten Traumapsychotherapie, kann man ein Trauma allerdings nicht an einem bestimmten Ereignis festmachen. Ein Trauma entsteht erst dann, wenn das Geschehene für ein Individuum zu viel, zu schnell und zu plötzlich passiert.

Entwicklungstrauma

Wenn wir das Wort Trauma im Zusammenhang mit Kindheit hören, denken wir vor allem an gravierende Erfahrungen wie körperliche beziehungsweise sexuelle Gewalt oder grobe Vernachlässigung.

Weniger im allgemeinen Fokus stehen allerdings jene kleinen Ereignisse, die im feineren, zwischenmenschlichen Bereich stattfinden und sich unweigerlich summieren. Viele Menschen erleben beispielsweise nicht genügend Bindung, sie fühlen sich zu wenig gesehen, werden als Baby schreiend alleine gelassen oder müssen Bindungsunterbrechung erleben wie Krankenhausaufenthalte. Es ist möglich, dass all diese Erfahrungen zu dem sogenannten Entwicklungstrauma führen, was eine ebenso immense Wirkung auf unser Leben haben kann, wie Schocktrauma.

Stillface Experiment

Wie sich Entwicklungstrauma anfühlen kann wurde mir klarer, als ich das Video „Stillface experiment“ von Dr. Edward Tronick sah. Bei diesem Experiment bekommt eine Mutter die Aufgabe, zunächst eingestimmt und liebevoll mit ihrem Baby zu kommunizieren und dann abrupt jegliche Reaktion auf ihr Kind zu unterlassen und es mit versteinertem Gesicht anzublicken. Das ganze Experiment dauert nicht einmal zwei Minuten, dennoch wird das Kind durch das Verhalten der Mutter komplett aus der Bahn geworfen. Wenn man sich vorstellt, dass es für manche Kinder normaler Alltag ist, nicht gespiegelt zu werden und niemanden zu haben, der auf sie eingeht, also eingestimmt kommuniziert, kann man ermessen, was dies für gravierende Auswirkungen auf die Psyche haben kann.

Weitere Trauma-Arten

Neben Schock- und Entwicklungstrauma gibt es noch andere Traumaformen gibt:

Das sogenannte Sekundärtrauma betrifft Menschen, die anderen in Notsituationen helfen.

Generationsübergreifendes Trauma betrifft beispielsweise Nachkommen von Kriegsgenerationen. Eltern, die den Krieg erlebt haben, reagieren vielfach mit Verdrängung oder Abspaltung und sind daher möglicherweise mit den eigenen Kindern weniger empathisch, da ein aufgeschlagenes Knie nicht so schlimm ist, wie Todesangst vor dem nächsten Bombenangriff.

Von sozialem Trauma spricht man, wenn Ereignisse, an denen viele Menschen beteiligt sind, wie beispielsweise Terroranschläge oder Zugsunglücke, breite soziale Auswirkung zeigen.

Wirkung von Trauma auf das Nervensystem

Wenn man in seinem Leben Traumatisierung erlebt hat, wirkt sich dies auf das autonome (= vegetative) Nervensystem aus. Dieses hat die Aufgabe, innerkörperliche Vorgänge automatisch, also autonom zu steuern, damit wir auf Stresssituationen reagieren können, ohne viel nachzudenken.

Um das Wirken des autonomen Nervensystems besser zu verstehen, nehme ich Sie nun mit auf eine kurze gedankliche Reise nach Afrika. Bitte stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Auf einer Safari verlässt eine Person unerlaubter Weise das Auto und plötzlich taucht eine hungrige Löwin auf. Unser Stammhirn, das für unsere Instinkte zuständig ist, startet automatisch das Programm „Überleben“.

Das automatische Programm „Überleben“

Binnen einem Bruchteil einer Sekunde werden im Körper die Stresshormone Adrenalin und Kortisol ausgeschüttet. Der Herzschlag und Blutdruck erhöhen sich, die kleinen Blutgefäße unter der Haut schließen sich, damit man bei möglichen Verletzungen nicht stark blutet. Die Leber schüttet die gesamten Zuckervorräte aus, damit der Körper mehr Energie zur Verfügung hat.

Gleichzeitig wird die Insulinproduktion gehemmt, damit der frei gewordene Zucker nicht sofort wieder abgebaut wird. Die inneren Organe wie Magen und Darm werden wenig durchblutet, weil sie in einem solchen Augenblick nicht gebraucht werden. Die großen Muskelgruppen erhöhen den Tonus, die Pupillen werden weit und es entsteht ein Tunnelblick.

Kampf oder Flucht

Mit Hilfe der autonom ablaufenden Reaktionen stellt unserer Körper Energie bereit, um zu kämpfen oder zu fliehen. In unserem Beispiel fällt die Entscheidung höchstwahrscheinlich zugunsten der Flucht aus, weil ein Kampf mit einem Löwen eher aussichtslos ist.

Dissoziation

Sollte es der Löwin gelingen, die Person einzuholen, wird deren Körper wahrscheinlich kollabieren. Wir alle können nur ein bestimmtes Maß an Erregung, Schock und Angst bewältigen, dann fliegt sozusagen unsere Sicherung heraus. Wir ergeben uns, handeln nicht mehr, erstarren, dissoziieren und schließlich kommt es zu einer kompletten Erschlaffung.

Diesen Effekt können wir beobachten, wenn wir in Tierdokumentationen sehen, wie beispielsweise eine Gazelle von einer Löwin gejagt wird. Wenn die Gazelle erkennt, dass die Flucht aussichtslos wird, tritt der Todstellreflex ein – eine wunderbare Einrichtung der Natur, um Schmerzen nicht mehr spüren zu müssen.

Auch heute noch wirken diese alten Muster

Glücklicherweise werden wir in unserem Alltag nicht von wilden Tieren verfolgt, dennoch erleben wir Stress oder überbordende Emotionen. Unser autonomes Nervensystem reagiert darauf, so wie es dies bereits seit Anbeginn der Zeit tat. Es kann nicht unterscheiden, ob uns eine hungrige Löwin bedroht oder beispielsweise eine stressige Situation in der Arbeit.

Wenn unser Stammhirn, also unsere Instinkte anspringen, haben die anderen Teile unseres Gehirns, nämlich das limbische System, das für Emotionen, Bindung und Zugehörigkeit zuständig ist sowie der Neokortex, der sich für unseren Verstand und für abstraktes und konkretes Denken verantwortlich zeigt, wenig zu melden. Das erklärt, wieso wir in Stresssituationen häufig anders reagieren, als in innerlich ausgeglichen Momenten.

Window of Tolerance

Wenn wir uns ausgeglichen fühlen, schwingt unser autonomes Nervensystem innerhalb unseres Toleranzfensters, dem sogenannten Window of Tolerance. Dieses Konzept geht auf Dr. Dan Siegel zurück. Anspannung (Erregung) und Entspannung wechseln sich in angenehmer Art und Weise ab, wir können gut reflektieren und angemessen sozial interagieren.

Vereinfacht formuliert, zeigt der Abstand zwischen den beiden Grenzen des Window of Tolerance, wie viel Spielraum wir in unserem Nervensystem haben. Also wie stressresistent wir sind und wie viel Erregung in Form von Stress aber auch in Form von Glück und Freude wir aushalten können.

Grafik des Window of Tolerance

Entscheidend für die Weite des Window of Tolerance sind die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, um uns Kraft und Stabilität zu geben, wie beispielsweise geregeltes Einkommen, Bildung, Fähigkeiten, Talente, Freunde, Gemeinschaft. Die zwei größten Ressourcen sind hierbei unsere sozialen Kontakte und der Glaube an eine Sinnhaftigkeit des Lebens.

Übererregung

Je traumatisierter ein System ist, desto enger seine Grenzen, desto rascher sprengt die Schwingung des autonomen Nervensystems das Window of Tolerance. In jenem Moment, wo die Erregung über unsere persönliche Grenze hinausgeht, startet das autonome Nervensystem sein Programm „Überleben“, so wie im Beispiel mit der Löwin beschrieben.

Eine Traumatisierung kann dazu führen, dass Menschen dauerhaft am oberen Rand des Toleranzfensters hängen bleiben, was zu ständiger Übererregung, innerer Unruhe, Anspannung, Reizbarkeit aber auch Schreckhaftigkeit führen kann. Häufig resultiert daraus Schlaflosigkeit, da das autonome Nervensystem nicht mehr von selbst zur Ruhe kommen kann. Viele Menschen setzen daher unbewusst am Abend übermäßiges Essen oder Alkohol als Beruhigungsmittel ein.

Untererregung

Da dieser übererregte Zustand auf Dauer nicht gehalten werden kann, erschöpft sich das Nervensystem irgendwann und stürzt förmlich in einen untererregten Zustand, kippt also am unteren Ende des Window of Tolerance heraus. Dies führt zu einem Gefühl von schier unendlicher Erschöpfung, Kraft- und Lustlosigkeit.

In diesem Zustand fehlt meist die Fähigkeit, Grenzen zu setzen und mit unseren Bedürfnissen im Einklang zu sein. Hinzu kommt oft ein Gefühl der Sinnlosigkeit, wir fühlen uns abgeschnitten von anderen oder einsam, oft auch depressiv.

Dami Charf glaubt in diesem Zusammenhang, dass viele Depressionen Folgeerscheinungen von Trauma sind.

Dissoziation – die ultimative Pausetaste

Ein weiteres Symptom unterhalb des Window of Tolerance ist die sogenannte Dissoziation. Wenn wir an das vorherige Beispiel der Gazelle und der Löwin denken, ist Dissoziation eine wunderbare Einrichtung der Natur: Sobald uns etwas zu viel wird und wir es nicht mehr aushalten können, können wir uns retten, indem wir uns selbst verlassen.

Dissoziation wirkt wie eine ultimative Pausetaste. Sie bedeutet eine Abspaltung von uns selbst. Für viele Menschen mit Trauma ist Dissoziation ein Normalzustand, aus dem sie nicht oder nur schwer aussteigen können. Klinisch kann man verschiedene Schweregrade der Dissoziation beschreiben, wie beispielsweise

  • fehlender Zugang zu Erinnerungen (Amnesie)
  • sich abwesend oder zerstreut fühlen
  • ein Verlieren in Tagträumen
  • sich fremd in der Welt fühlen
  • sich wie in Watte gepackt fühlen
  • kein Zugang zu bestimmten Sinnesreizen haben
  • Eintritt in ein anderes Raum-Zeit-Gefühl (Derealisation)
  • neben sich stehen, sich nicht mehr mit sich selbst identifizieren können, dem Geschehen
  • von außen zusehen, ohne emotional beteiligt zu sein (Depersonalisation)
  • keinen Zugang zu den eigenen Gefühlen (Alexithymie)
  • Filmriss, man weiß z.B. nicht mehr, wie man an einen Ort gekommen ist
  • wenn man seine Emotionen von seinem funktionalen Teil abspaltet. (primäre bzw. sekundäre strukturelle Dissoziation)
  • Dissoziation in ihrer extremsten Form sind dissoziative Identitätsstörungen, welche stationäre Behandlungen benötigen.

Was tun mit dem Wissen?

All dieses Wissen bringt zwar im Falle einer Traumatisierung keine konkreten Lösungen, aber es kann helfen, nicht mehr zu hart mit uns selbst ins Gericht zu gehen, sondern sich selbst mit Verständnis zu begegnen. Es hilft zu verstehen, wieso der berühmte „Tritt in den Hintern“ manchmal nicht wirkt, sondern zu einer Überforderung und damit möglicherweise Starre einhergeht. Es ist wichtig uns zu fordern, ohne und zu überfordern und zu lernen, uns selbst rechtzeitig zu regulieren.

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