In meinem Praxisalltag erlebe ich immer wieder Frauen, die voller Motivation sind und quasi laut ausrufen: „JETZT schaffe ich es! Ab jetzt werde ich ALLES in den Griff bekommen! Ab jetzt wird Essen keine so wichtige Rolle mehr spielen!“

Ein Lebensthema mit Motivation in Angriff zu nehmen ist gut und wichtig. Doch es ist ebenso wichtig zu wissen, dass der Ausstieg aus der Esssucht – verglichen zu einem Lauf – keine Kurzstrecke ist, die mit voller Power in kürzester Zeit hinter sich gebracht werden kann.

Wie gerne würde ich meinen Klientinnen versprechen: Kommen Sie 10 Wochen zu mir und alles ist vorbei.

Aber so ist es leider nicht.

Der Ausstieg aus der Esssucht ist möglich, aber er braucht Zeit und er hat Höhen und Tiefen. Überlegen Sie, wie lange Sie in Ihren Mustern verhaften waren. Oft ein paar, meistens sehr viele Jahre. Da kann man nicht erwarten, dass ALLES, was bisher mit Essanfällen gelöst wurde, plötzlich und sofort auf GANZ andere Art und Weise gelöst werden kann. Die Essanfälle haben eine wichtige Funktion: Sie helfen zu spüren und mit unlösbaren, zT. noch nicht bewussten Problemen umzugehen.  Hier neue Muster einzuüben braucht Übung und Übung braucht Zeit.

Es ist wichtig, die Energie einzuteilen. Sich auf einen längeren Weg einzustellen. Das muss Sie nicht traurig machen. Denn bei einer Wanderung geht man auch längere Wege und kann sehr wohl den Weg genießen, bevor man auf der Hütte ankommt. Dies ist überhaupt sehr wichtig: Den Weg genießen. Denn selbst wenn die  Essanfälle weg sind eines Tages: Das Leben bieten immer noch Herausforderungen. Dann springt man nicht andauernd selig herum vor lauter Glück, nein, auch ohne Essanfälle – und gerade ohne Essanfälle – lebt man die Emotionen auf gesunde Weise aus: Tränen, Wut, Angst, Freude, Sehnsüchte … alles noch da. Die Herausforderungen bleiben. Was anders ist ist der Umgang damit. Der ist gesünder. Damit wird das Leben letztendlich in Summe leichter. Dieses Wissen ist sehr wichtig, um das „Wenn ich keine Essanfälle mehr haben DANN wird alles besser“ Denken zu relativieren.

Ich möchte hier gerne mit Ihnen noch folgendes teilen: Der Ausstieg aus der Esssucht geschieht nicht plötzlich. Viel mehr ist es so, dass mir meine Klientinnen irgendwann gegenüber sitzen und sagen: „Weißt Du, irgendwie bringt´s das Fressen ja voll nicht mehr um mit meinen Problemen zurecht zu kommen.“ Dann lächle ich in mich hinein weil ich weiß: DAS ist der Weg. Dann irgendwann kommen sie und sagen: „Also letztens hab ich mich so geärgert und meiner Kollegin gesagt, dass sie das lassen soll.“ Das beobachte ich dann einige Zeit und irgendwann frage ich: „Sag einmal, kann das denn sein, dass Du nicht mehr esssüchtig bist?“. Dann kommt meistens ein verdutztes Schauen oder ein Kichern und ein ganz verhaltenes: „Hmmm, vielleicht hast Du recht. Kann das denn sein???!!!“ Also: Der Ausstieg aus der Esssucht passiert langsam und schleichend. Kein abruptes Ende. Zumindest habe ich das in den über 10 Jahren Begleitung von Frauen mit Esssucht noch nie erlebt.

Also hier meine Tipps am Weg aus der Esssucht:

*) Teilen Sie sich Ihre Energie ein, gehen Sie langsam los, Schritt für Schritt .
*) Stellen Sie sich auf Höhen und Tiefen ein.
*) Rechnen Sie damit, dass Sie auch weiterhin Essanfälle haben werden, auch wenn Sie intensiv an sich arbeiten.
*) Definieren Sie Ihren Erfolg nicht anhand der Essanfälle sondern daran, was sich in Ihrem Leben zum Positiven verändert und daran, ob Sie mit gleichen Herausforderungen anders umgehen als früher.
*) Versuchen Sie sich Ihre zufriedenen Momente sehr bewusst zu machen, denn die gibt es, selbst in der tiefsten Krise.
*) Holen Sie sich Hilfe.

Mehr über den Weg aus der Esssucht erfahren Sie im aivilo Workshop „Ausweg aus dem zwanghaften Essen“ am 17./18. November