Letztens eierreichte mich folgende E-Mail Anfrage zum Thema: Widerspruch zwischen „nur Essen wenn man hungrig ist“ und „Essanfälle zulassen“

Liebe Frau Wollinger,
ich habe vor zwei Tagen Ihr E-Book bekommen und sofort begonnen zu lesen 😉 Jetzt habe ich auch schon eine Frage: In Ihrem Buch steht immer wieder, dass man nur essen soll, wenn man Hunger hat.
Gleichzeitig geben Sie den Tipp, dass man seine Essanfälle akzeptieren soll. Ich bin ein bisschen verwirrt, weil sich das für mich gegenseitig ausschließt. Sollte ich versuchen, solange durchzuhalten, bis mein Magen wirklich knurrt oder dem Essensdrang immer nachgeben, auch wenn ich keinen Hunger habe? Und auch wenn ich am Tag schon zu viel gegessen habe?
Liebe Grüße!
L. (vollständiger Name ist mir bekannt)

Liebe L.,

vielen Dank für Ihre interessante Frage! Die Antwort ist komplex (so wie die Esssucht eben ist 😉 ) , daher möchte ich auf mehreren Ebenen antworten:

1.) Wie ist (physischer) Hunger spürbar?

Hunger ist nicht immer mit Magenknurren gleichzusetzen. Hunger kann auf viele unterschiedliche Weisen erkannt werden. Fragen Sie mal in Ihrem Umfeld nach, wie Ihre Freundinnen Hunger empfinden und Sie werden überrascht sein über die Vielfältigkeit der Antworten.
Wenn man an Esssucht leidet braucht es Zeit und Übung, den eigenen Hunger (wieder) kennenzulernen und spüren zu können. Denn genau dieser Hunger nach Nahrung ist es ja, den man in der Esssucht am liebsten negieren möchte. Die Gleichung einer Esssüchtigen könnte lauten: „Hunger = ich muss essen = HILFE dann nehme ich zu = also spüre ich Hunger am liebsten gar nicht“ sowie „Sättigung = ich darf nicht mehr essen = HILFE ich will doch so gerne unendlich essen = also spüre ich Sättigung gar nicht“. Diese Gleichungen machen es so schwierig, Hunger bzw. Sättigung wahrzunehmen.

Um den eigenen Hunger kennenzulernen ist es hilfreich, die in der Publikation beschriebene Hunger / Sättigungsskala zur Hilfe zu nehmen. Je nach körperlichen oder psychischen Anzeichen teilt man den Hunger ein in leichten Hunger (Hungerskala 1) oder sehr starken Hunger (Hungerskala 10).

Essen sollte man bei +/- 5, also genau in der Mitte.

Anzeichen für Hunger könnte sein: leichter Kopfschmerz, plötzliche Müdigkeit, Konzentrationsmangel, plötzliches Umschlagen der Stimmung, Agressivität, Magenknurren, Zittrigkeit, Fahrigkeit, Ungeduld, leichtes Ziehen im Hals.
Wo man auf der Hunger/Sättigungsskala steht lernt man am besten, indem man sich immer wieder mit sich selbst im Laufe des Tages an mehreren Tagen vergleicht. Hunger ist ausschließlich ein subjektives Empfinden.

2.) I-S-S wenn Du hungrig bist versus N-U-R Essen wenn Du hungrig bist

Magenknurren ist meist schon bei Hungerskala 10 einzustufen. Das heißt es gilt zu lernen zu essen nicht erst wenn man komplett ausgehungert ist sondern schon davor.

Dabei geht es um das sich erlauben.

Die Betonung des Satzes am Weg aus der Esssucht liegt also vor allem in der Betonung des „iss“, also I-S-S wenn Du hungrig bist (und nicht erst wenn Du vor Hunger halb kollabierst). Denn bei extremen Hunger ist es fast unmöglich die feinen Zeichen des Körpers zu spüren (z.B. Sättigung) bzw. das Essen geduldig zu essen, sich schön herzurichten (siehe online Publikation) , da der ganze Organismus auf „Essen und zwar JETZT und SCHNELL gepolt ist.

Den Satz kann man auch lesen mit der Betonung auf „nur“. Also „iss N-U-R wenn du Hungrig bist“. Dies empfehle ich in der Esssucht in den guten Phasen, denn in Esssucht-Phasen ist dies schwer durchzuführen, weil der Hunger der Seele einfach riesig ist. Nur zu Essen bei Hunger braucht Disziplin. Langfristig ist das das Ziel, denn wenn man nur isst wenn man hungrig ist und aufhört wenn man satt ist, wird das Gewicht gehalten.
Aber in der Esssucht geht es zunächst um etwas anderes, nämlich um das zulassen statt zählen und kontrollieren. Das „iss NUR wenn du hungrig bist“ empfehle ich meist erst, wenn der Weg aus der Esssucht schon ein Stück vorangeschritten wurde.

3.) Essanfälle akzeptieren

Wenn der Essanfall (bzw. das ständige „grasen“ bzw. ein „ich kann nicht mehr aufhören zu essen“) einmal da ist, sind wir auf einer anderen Ebene. Hier geht es nicht mehr um den PHYSISCHEN Hunger sondern um den PSYCHISCHEN. Hier hungert die Seele. Beim Hunger der Seele geht es nicht mehr um Hunger oder Sättigung des Körpers. Es geht darum, dass da irgendeine Leere ist, vielleicht tiefe Traurigkeit, Einsamkeit, Sehnsucht, Unsicherheit, Angst. Wenn man Esssucht hat, dann wird dieses Loch mit Essen gestopft. Dies gilt es zu akzeptieren. Wenn man dagegen ankämpft, kämpft man gegen sich statt für sich.

Am Weg aus der Esssucht gilt es zu lernen, welche Bedürfnisse die Seele hat und ihr das immer mehr zu geben. Denn dann braucht es die Esssucht nicht mehr. Weiters geht es um das adäquate ausleben von Gefühlen. Dieser Weg braucht Zeit und Geduld (ich weiß, das hört keine Esssüchtige gerne, aber so ist es nun mal)

 4.) Unterscheiden zwischen physischen und psychischen Hunger

Das heißt es gilt zu unterschieden zwischen physischen und psychischen Hunger. Wenn es Ihnen gut geht, dann machen Sie die Summer/Zuwinker Übung und die Hunger/Sättigungsskala Übung, sowie hinsetzen und Essen schön anrichten, wie in der Online Publikation beschrieben. Versuchen Sie zu erkennen, wann Ihr Körper genug hat und wann die Seele beginnt zu essen. (das ist z.B. wenn Ihre Gedanken nicht mehr an Essen interessiert sind und Sie nichts mehr schmecken können)

Wenn es Ihnen nicht gut geht, also wenn die Seele schreit, dann seien Sie vor allem liebevoll zu sich und zwingen Sie sich nicht zu den Übungen, denn sie werden an diesen Tagen nur schwer gelingen, wenn überhaupt.

Insofern ist das Akzeptieren des Essanfalls und das Essen nur bei Hunger kein Widerspruch. Beides findet in unterschiedlichen Phasen innerhalb derselben Esssucht statt.

Es geht darum zu erkennen, dass das Essen Teil des Symptoms ist. Diese Ebene muss angesehen werden aber immer nur parallel zu den seelischen Faktoren.

Die Esssucht zu verstehen braucht seine Zeit. Dies ist natürlich, denn wer mag schon etwas verstehen, was man nicht haben möchte. Doch je eher man im Herzen versteht, dass die Esssucht da ist, weil man sie braucht, desto eher darf Heilung geschehen.

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