Hier wieder eine Frage zum Buch:
Hallo Frau Wollinger,
ich habe mir letzte Woche Ihr Buch gekauft und lese es nun schon zum zweiten Mal. Die Buchvorschau auf Amazon hat mich förmlich angesprungen und beim Lesen hat es sich dann bestätigt: Die ganze Zeit dachte ich nur: „Sie tickt ja genauso wie ich!“
Jedenfalls gefällt mir das Buch außerordentlich gut und ich habe schon sehr viele Stellen markiert und Post-its rein geklebt, um wichtige Passagen zu markieren. Ich habe es gekauft, obwohl ich mich seit mittlerweile 11 Jahren mit dem Thema Esssucht beschäftigen muss. Ich habe schon viel gemacht und gelesen, spürbare Fortschritte gemacht. Darunter auch zwei verschiedene Therapien und ein Aufenthalt in einer Reha-Klinik. Und trotzdem ist der Weg noch so weit. Nicht zuletzt weil ich nach wie vor stark übergewichtig bin. Ich bin wohl nach Ihrer Schilderung in der Phase „Ich kann mich akzeptieren, aber ich esse noch immer viel zu viel“. Deshalb habe ich mir Ihr Buch gekauft, um ein paar Anregungen zu erhalten und vielleicht ein paar Aha-Effekte zu bekommen. Ganze drei Tage hat es auch funktioniert. 😉 Vielleicht haben Sie noch ein paar Ideen für mich.
Übrigens fand ich es ganz toll, dass Sie keine Gewichtszahlen erwähnt haben. Insgeheim habe ich zwar darauf gehofft (alte Diät-Mentalität), aber insgeheim hatte ich auch Angst davor, denn ich wusste, wenn so was drin steht, hoffe ich nur auf eine schnelle Abnahme, Ihrem Beispiel entsprechend.
Nun zu meinen Fragen:
Momentan ist es häufig noch so, dass ich das Warten auf den Hunger und das Aufhören bei Sättigung eigentlich nur als eine weitere Diätregel empfinde, die ich ungern einhalte. Ich habe also keine Fressanfälle, aber ich grase noch viel, oft auch mit kalorienhaltigen Getränken wie Säften und vor allem fertiger Eiskaffee aus dem Becher.
Wenn ich warten kann, dann bleibe ich manchmal absichtlich 15 bis 30 Minuten hungrig, weil ich denke, ich habe so lange darauf gewartet – warum soll ich das Gefühl auslöschen, indem ich esse? Ich will meinen Erfolg also genießen und mich belohnen.
Und unabhängig davon wie hungrig ich vor dem Essen war – wenn ich satt werde, denke ich: „Ich habe so lange gewartet, essen zu dürfen. Und das soll es jetzt gewesen sein? Ich will mehr!“ Ich sehe das Essen also eigentlich nur als Belohnung dafür, dass ich brav war und ein paar Stunden ohne ausgekommen bin, denn dann ist es „erlaubt“. Und dementsprechend bin ich zwar satt, aber nicht zufrieden.
Beides zusammen ist eigentlich nur eine Verschiebung meines Problems (ich nenne es den kleinen Kreislauf der Essstörung) und ich weiß nicht, was ich hier nun tun kann.
Ich esse auch oft, weil ich denke, etwas nicht ertragen zu können (Langeweile, die Arbeit, aber auch das Warten auf den Hunger, Müdigkeit). Das wurde mir bewusst bei der Übung aus Ihrem Buch – wann esse ich und was würde ich tun, wenn ich nicht essen könnte. Wie kann man lernen, dass man es durchaus ertragen kann? Ich habe es hier mit dem sog. Surfen auf den Emotionen versucht, mit Ablenkung, mit wohlgemeinten Versprechen (Gleich kannst du!), auch mit dem Stellen einer Uhr, um wenigstens den Automatismus des Nichtertragenkönnens und Essens zu unterbrechen, was aber alles nur bedingt half, da es für mich eine eher negativ behaftete Sache ist. Es sind immer Momente und Situationen, in denen es keine sonstige Alternative gibt.
Und zu guter Letzt fällt es mir schwer, gute Lösungen für meine größte Baustelle zu finden: der Abgrenzung. Ich würde mich nicht unbedingt als hochsensibel bezeichnen (das klingt so hochtrabend), aber ich bin wesentlich empfindsamer und feinfühliger als andere. Daher finde ich es z. B. furchtbar anstrengend, ca. 8,5 Stunden am Tag in einem Doppelbüro zu sitzen, in das auch noch ständig Leute rein kommen (Sekretariat). Ich bin permanent auf Empfang, selbst wenn meine Kollegin nichts sagt. Auch zuhause fühle ich mich öfter von meiner Familie über die Maßen beansprucht (teilweise durch die bloße Anwesenheit), obwohl ich sie von Herzen liebe, und kann mich erst richtig entspannen, wenn meine Tochter im Bett und mein Mann zur Arbeit gegangen ist. Zudem verabscheue ich es, dass die meisten Menschen immer nur zu klagen haben, aber nicht aktiv an ihren Problemen arbeiten. Das belastet mich immer sehr (früher noch mehr als heute). Ich habe das Gefühl, sie reden darüber, weil sie von mir gerettet werden wollen. Dann fühle ich mich automatisch für sie verantwortlich. Vor allem, weil es immer nur um Negatives geht. Ich habe das Gefühl, jeder hat das schrecklichste Leben, das man sich vorstellen kann und alles ist nur ein endloses Leiden. Obwohl ich weiß, dass es nicht wirklich so ist. Ich fühle mich dadurch so ohnmächtig.
Und meine Antwort auf all das ist: Essen. Mir ist vollkommen bewusst, dass ich das Essen und mein Gewicht als Puffer zwischen mich und die Welt stellen möchte. Ich versuche schon, großzügige Auszeiten zu finden durch lange Mittagspausen oder eine Rückzugsecke im Schlafzimmer mit einem gemütlichen Sessel u. ä. Ich habe im Büro auch am liebsten die Tür geschlossen (meine Kollegin leider nicht). Aber komischerweise ist es hier wie beim Essen: Es ist nie genug. Je mehr ich davon bekomme, desto mehr will ich. Das führt auch oft dazu, dass ich abends viel zu lange wach bleibe, nur um die kostbare Zeit für mich allein so weit wie möglich auszukosten. Manchmal möchte ich am liebsten einfach irgendwohin auf eine einsame Insel verschwinden, ohne Handy und ohne eine Adresse zu hinterlassen. Einfach damit ich niemanden mehr sehen oder hören muss. Das geht natürlich nicht. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich traue mich nicht, die Kollegen aus dem Büro zu schicken oder darauf hinzuweisen, wenn sie meine Grenzen verletzen oder meiner Kollegin zu sagen, sie möge doch endlich einmal still sein. Ich denke irgendwie, ich hätte keine Berechtigung dazu oder dass es wahrscheinlich befremdlich wirkt („Könntest du bitte nur schriftlich mit mir kommunizieren? Ich bin heute so überreizt.“ – Nein, so was kann ich nicht sagen.) Und fürchte mich vor dem Unverständnis und dem Zorn der Anderen, denn das ist etwas, was meine Mutter früher sehr häufig getan hat: Mich mit eingeschnapptem Schweigen zu strafen, teilweise tagelang, wenn ich auf meinem Willen beharren wollte. Auch heute ecke ich damit oft an, auch wenn die Reaktionen nicht mehr ganz so heftig ausfallen.
Ich weiß nicht, wie ich lernen kann, meine Bedürfnisse zu äußern und ggf. negative Resonanz auszuhalten.
Ich würde ich mich sehr über eine Rückmeldung von Ihnen freuen. Ich bin in dieser Sache mittlerweile ein ziemlicher Selfmade-Typ, mir genügen oft schon Anregungen.“
Hier meine Antwort:
Liebe Frau K.,
vielen Dank für Ihre Rückmeldung zu meinem Buch, es freut mich sehr, dass es Sie „angesprungen“ hat 🙂
Zu Ihrer ersten Frage:
In der Bewältigung der Esssucht gibt es verschiedene Phasen. Wenn man noch ganz am Anfang steht, dann ist wird man von Essanfällen überwältigt (oder vom Dauer-Grasen), sie fallen einen förmlich ohne jede Vorwarnung von hinten an und man kommt ihnen nicht aus. Es ist einfach stärker als man selbst.
Wenn man dann an sich arbeitet lernt man, dass diese Essanfälle (bzw. das Dauer-Grasen) eine Funktion haben, dass sie nicht umsonst bei uns sind. Und nach und nach lernt man die ersten Anzeichen zu erkennen, sodass einen die Essanfälle nicht mehr überraschend überfallen. (bzw. man erkennt, dass man gerade grast, statt nie mitzubekommen, dass man momentan eigentlich gerade isst) Gleichzeitig beschäftigt man sich am Weg aus der Esssucht mit dem emotionalen Hunger. Je mehr man diesen verringert, desto weniger sind die Essanfälle (bzw. das Grasen) notwendig. Nach und nach lernt man, seine Gefühle zu ertragen, ohne das Essen dafür zu missbrauchen.
So wie ich Ihr Anliegen verstanden habe, möchten Sie ohne Einschränkungen immer essen und dennoch kein Übergewicht haben. Das wird so leider nicht funktionieren. Wenn wir im Prozess am Weg aus der Esssucht schon weiter fortgeschritten sind, kommt irgendwann der Tag, wo wir entscheiden müssen, wie wir weiter gehen möchten. Wenn Sie sich dazu entscheiden, sich nicht einschränken zu wollen und alles zu essen, was unsere Überflussgesellschaft so anbietet, dann ist das OK. Nur werden Sie dann vermutlich ein paar Kilo mehr mit sich herumtragen. Ich sage das ohne jede Wertung, es ist einfach ein Fakt: Isst man mehr als der Körper braucht, legt er Reserven an.
(hier schreibe ich bewusst „wenn man fortgeschritten ist“, denn wenn man noch mitten in der Esssucht steckt, entscheidet die Sucht über einen und es entsteht oft ein Gefühl der Ohnmacht)
Wenn Sie sich entschließen, dass Sie diese Reserven nicht möchten, dann müssen Sie ein System finden, um „nein“ zu sagen, zu jenen Lebensmittel oder Speisen, die zu viel für Sie sind.
Und hier kommen die körperorientierten Maßeinheiten Hunger / Sättigung und Summer / Zuwinker ins Spiel. Für mich ist das keine Diät, denn diese Maßeinheiten sagen mir, was mein Körper momentan braucht und wann Essenspause ist. Der Teil, der mit Diät vergleichbar ist, ist die Willensstärke und die Konsequenz die das „nein“ sagen braucht, wenn wieder einmal ein Zuwinker auftaucht. Diese inneren Stimmen, die Sie beschreiben, könnten ähnlich der Stimmen meines inneren Kindes sein, die ich im Buch beschreibe. Da braucht es immer und immer wieder eine liebevolle innere Kommunikation, so wie ich das im Buch beschrieben habe.
Steckt man noch mitten in der Esssucht, ist diese innere Kommunikation noch sehr schwierig, da man noch nicht gelernt hat, zwischen emotionalem und physischem Hunger zu unterscheiden. Kennt man den Unterschied zwischen beidem, ist der nächste Schritt zu lernen, die Gefühle zu ertragen, statt sie herunterzuessen, wie z.B. Langeweile oder Überstimmulation.
Wenn man also kein überschüssigen Kilos haben möchte, dann ist Verzicht notwendig. Um diesen Verzicht so schmerzfrei wie möglich zu gestalten ist es wichtig, den dadurch entstehenden Mangel auf anderen Ebenen auszugleichen, hier empfehle ich z.B. die Schmetterlingsübung aus dem Buch. Also zu lernen, dass Genuss nicht nur mit Essen zu tun hat. Ich schreibe hier absichtlich „lernen“, denn sich mit Essen zu belohnen ist oft antrainiert und damit gewohnt und einfach. Alle neuen Handlungsweisen brauchen Übung und ja, auch Willen.
Zum Thema Hochsensibilität habe ich bereits eine Frage beantworet, vielleicht möchten Sie sich das mal durchlesen: http://www.aivilo.at/2016/02/01/abgrenzung-bei-hochsensibilitaet/ Je mehr man weiß, wer man ist und wo man steht, desto mehr traut man sich, seine eigenen Grenzen zu wahren und dafür klare Worte zu finden und vor allem auch eine klare innere Haltung. Dann traut man sich auf wiederholtes Klagen zu antworten: „Ich fühle mit dir, aber ich kann dir hier leider nicht helfen. Egal welchen Ratschlag ich dir bisher gegeben habe, keiner hat geholfen. Das macht mich unglücklich, denn ich fühle mich verantwortlich dafür, dass es dir nicht gut geht. Was können wir hier tun?“ oder „Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Können wir bitte später weiter reden? Momentan brauche ich Ruhe, ich hoffe, du verstehst das?“
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weitergeholfen zu haben,
herzliche Grüße aus Wien,
Olivia Wollinger
P.S. Falls Sie Zeit haben für eine amazon Rezension wäre ich dankbar, sowas braucht man heutzutage als Buchautorin 🙂
Frau K. antwortete mir schließlich:
Hallo nochmals,
herzlichen Dank für die ausführliche Rückmeldung. Zumindest hat mir Ihre Antwort gezeigt, wie weit ich schon gekommen bin. Früher wusste ich gar nichts über mich, außer, dass ich permanent essen wollte. Heute merke ich schon öfter mal: „Ich will jetzt essen, weil ich aus dieser Situation eigentlich raus will, aber das geht nicht. Ich weiß mir momentan auch nicht anders zu helfen, also ist es okay. Ich tue mein Möglichstes.“
Ganz vereinzelt komme ich auch an den Punkt, wo ich eine Alternative probiere oder das Essen einfach lasse, aber das kann ich momentan noch an einer Hand abzählen. Ich denke, ich muss vor allem lernen, mir nicht mehr selbst Regeln aufzuerlegen, denn gegen die begehre ich am meisten auf. Kein Wunder nach 20 Jahren Diät-Regime. Ich will spontaner und flexibler werden in den jeweiligen Momenten. Dann fällt es mir auch nicht schwer, nein zu einem „Zuwinker“ zu sagen.Interessant fand ich in Ihrer Antwort bzgl. Hochsensibilität die Aussage, dass Sie dachten, es dürfe Ihnen nicht gut gehen, wenn es anderen schlecht geht. Ganz genau das denke ich auch immer. Wenn ich dann z. B. meinen Vater und meine Schwester besuche, denen es meinem Gefühl nach schlechter geht als mir, esse ich unsäglich maßlos. Die Besuche sind immer schön und wir verstehen uns gut, aber trotzdem war da immer so ein Gefühl in mir, das ich nicht erklären konnte und auf das ich mit Essen reagierte. Erst bei einem Besuch vor kurzem wurde mir klar, dass ich ihnen damit sagen will: „Seht her! Ich bin total unkontrolliert und fett. Mir geht es genau so schlecht wie euch. Wir stehen auf derselben Stufe.“ Von der Logik her macht das natürlich keinen Sinn, aber genau so empfinde ich es. Ich aß bei diesem Besuch wesentlich weniger, weil ich durch die Bewusstheit keinen Heißhunger mehr hatte. Ich schwankte jedoch emotional einige Male zwischen Wut und Mitleid hin und her, obwohl es keinen direkten Auslöser gab.
Auch bei diesen Dingen wird mir wohl nur mehr Bewusstheit, gepaart mit Flexibilität helfen. Bisher hielt ich in alter Diät-Manier an diesem „Ab jetzt mache ich alles anders, für immer.“-Schalter fest. Ich erwartete, dass ich ab sofort für immer nur noch genau nach Hunger esse und niemals mehr oder weniger, aber so funktioniert das eben nicht. Locker lassen, bewusste Kontrolle langsam los lassen, ist nun mein Übungsziel.Danke nochmals, dieser kleine Austausch hat mir wieder einige Anregungen gegeben, die mir sehr geholfen haben.
Freundliche Grüße
K.
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