Letztens bekam ich wieder eine Frage zum Buch, die ich mit Erlaubnis der Autorin hier anonym veröffentlichen darf:

Hallo Frau Wollinger!

Vielen vielen Dank für Ihr Buch, es spricht mir teilweise aus der Seele und hilft mir sehr!

Ich bin 28 Jahre alt und befasse mich seit ca. 2 Jahren intensiv mit meiner Binge Eating Disorder. Die Beiträge in Ihrem Blog sowie Ihr Buch gaben mir das Gefühl: Endlich verstehe ich die Zusammenhänge, das was dahintersteckt; in diese Richtung geht mein Weg weiter.

Ich bin begeistert von der EKT. Sie hilft mir sehr, mit meinen Gefühlen umzugehen. Als HSP ist diese Methode für mich sehr hilfreich.

Problematisch wird´s für mich bei Gefühlen, die „nicht meine“ sind. Wenn sich zum Beispiel mein Freund oder meine Freundinnen bei mir ausweinen, wenn ich Spannungen zwischen Menschen spüre,… geht es mir danach häufig nicht gut. Diese Gefühle dann mit Hilfe der EKT aufzuarbeiten, scheint mir fast unmöglich… Etwas in mir wehrt sich dagegen, da das Ganze ja nichts mit mir zu tun hat.

Ich brauche sehr lange, bis ich mich dann wieder von solchen „Fremdeinwirkungen“ erholt habe, oft reagiert mein Körper mit Schnupfen, ich werde wütend und mein innerer Antreiber meldet sich. Natürlich kommt auch das Verlangen nach Essen, wobei meine Essanfälle schon viel weniger heftig geworden sind und seltener vorkommen.

Ist die EKT auch für solche Gefühle die richtige Methode oder gibt es auch andere Möglichkeiten, sich abzugrenzen und bei sich zu bleiben?

Würde mich über eine Antwort von Ihnen freuen!

Danke und liebe Grüße,

P.

Meine Antwort:

Liebe Frau P.,

vielen Dank für Ihre positiven Rückmeldung zum Buch, darüber habe ich mich sehr gefreut. Außerdem freut es mich sehr, dass Sie von der EKT begeistert sind, ich bin auch immer noch begeistert davon 🙂

An Ihrer Frage merkt man, dass Sie bereits Fortgeschritten sind auf Ihrem Weg, denn es klingt, als ob Sie Ihre Gefühle schon genau differenzieren könnten.

Die von Ihnen beschriebene Thematik ist mir gut vertraut, denn ich habe es ähnlich erlebt. Hier meine Erfahrungen dazu:

Das intensive Spüren hat mit der HSP-Geschichte zu tun aber auch mit der eigenen Stabilität. Das heißt, wenn ich nicht weiß, wo „ich“ bin, wo meine Mitte ist, dann bemerke ich erst viel zu spät (mitunter erst wenn ich mich im Essanfall befinde), wo meine Grenzen sind.

Dann kamen – bei mir – noch Glaubenssätze hinzu, wie z.B. „ich bin nur etwas Wert, wenn ich helfe“, „ich darf nicht nein sagen“ „mir darf es nicht gut gehen, vor allem nicht dann wenn es so vielen Menschen schlecht geht“.

Darüber hinaus ließ ich in meinem Umfeld Personen, die mir nicht gut taten (Energiesauger) zu nahe an mich heran.

Das ist Basisarbeit (= längerfristig), die mit Hilfe von Psychotherapie oder körperorientierten Methoden bewerkstelligt wird und mit der Arbeit am Selbstwert / Selbstliebe.

Mit steigendem Selbstwert wird das „Spüren der anderen“ leichter erträglich. Wenn ich weiß, wer „ich“ bin, wo ich anfange und wo ich aufhöre, dann passiert es seltener, dass man von Gefühlen überrollt wird.

In der Partnerschaft kann das mitunter herausfordernd sein, da man so eng ist. Hier kann es hilfreich sein, prinzipiell darüber zu sprechen, also offen darzulegen, wie Sie sich fühlen und dann auszumachen, wie sie das kommunizieren könnten, wenn wieder so eine Situation kommt.

Damit es nicht zur Eskalation kommt, denn wenn der Partner sich gerade ausheult und wir ihm sagen „Du Schatz, alles schön und gut, aber mir tun deine Gefühle gerade nicht gut“ dann könnte das eventuell nicht gerade angenehm sein 🙂

Also ist es gut, solche Dinge zu besprechen in Ruhe, in einem guten Moment, wo die Beziehung harmonisch läuft, also abgekoppelt vom Akutfall. Es geht in einer Partnerschaft darum, Themen, die einer der beiden hat, gemeinsam zu lösen, denn jedes Thema eines Partners betrifft auch den anderen.

Wenn ich heute Spannungen in einem Raum spüre, spüre ich es und ich kann entscheiden, was ich damit tue.

Am wichtigsten ist, dass ich es nicht persönlich nehme (i.S.v. ich muss auf dieser Party nicht die Welt retten, ich darf auch einfach wieder gehen)

Hinsichtlich des Leids von anderen Menschen, das ich stark spüren kann (oder mir einbilde es stark spüren zu können, denn verifiziert habe ich es nicht, man kann ja schließlich nicht zu jemanden hingehen und fragen: „Entschuldigen Sie, leiden Sie gerade?“) gehe ich damit um, dass ich es zwar wahrnehme, mich daran aber nicht ankopple, also bewusst nicht darüber nachdenke sondern mich an etwas schönes anbinde, die Sonne zum Beispiel oder ein Lächeln.

Das fällt leichter, seit ich bewusst Sozialprojekte in meiner Freizeit ausgewählt habe, wo ich mich ehrenamtlich mit Zeit oder mit Spenden engagiere. Man kann nicht die ganze Welt retten, aber sehr wohl im kleinen etwas verbessern und ich finde es wichtig, nicht ständig mit schlechtem Gewissen herumzulaufen, sondern die „ich will helfen“-Energie bewusst zu steuern.

Das Ankoppeln an das Fröhliche, Schöne finde ich extrem wichtig! Denn es gibt neben all dem Leid und all der Schwere, soviel schönes. Als HSP ist es wichtig, beides in sich aufzunehmen!

Zu Ihrer Frage hinsichtlich EKT:

Ja, die Methode ist dafür auch sehr gut. Ziel wäre, herauszufinden, was in Ihrem Körper passiert, wenn Gefühle daher kommen, „die nicht Ihre sind“.

Was passiert dann? Fangen Sie an hibbelig zu werden? Wütend? Enger Hals? Einfach bemerken, wahrnehmen, begrüßen. Irgendwann wird sich ein hervorragendes Alarmsystem entwickeln, dem Sie dann richtig dankbar sein können, z.B. „Ah! Mein Hals schnürt sich zu, ALARM ALARM es könnte sein, dass gerade irgendwer deine Grenze übertritt, VORSICHT! Stehenbleiben! Lage sondieren!“

Das Wahrnehmen ist immer der erste Schritt. Das Handeln (abgrenzen) folgt erst danach. Das könnten Sie dann in einer ruhigen Minute überlegen, wie Sie das tun könnten, damit es Ihnen besser geht. (siehe oben am Beispiel Partnerschaft).

Ich persönlich finde es nicht gut, sich prinzipiell abzugrenzen, denn das macht auch stumpf. Ich finde es gut, flexibel zu bleiben, wie eine Pflanze, die sich im Wind bewegen kann, aber dennoch stabil verwurzelt bleibt.

Wenn sich etwas in Ihren wehrt, dann wäre es spannend, dieses Gefühl zu betrachten. „Hallo das was sich da in mir wehrt, ich begrüße dich“. Weiters lassen sich die Wut und die inneren Antreiber hervorragend ansprechen. Falls Ihnen das nicht gelingt, dann braucht es vielleicht eine EKT Einzelsitzung.

An manche Dinge ist es schwer alleine ran zu kommen, weil beispielsweise die Wut oder die Antreiber sieht man nicht so gerne, und wenn man die EKT mit sich selbst macht, kann man da leichter ausweichen, z.B. in tausend andere Gedanken. Wenn jemand neben einem sitzt und mitmacht, sozusagen, dann bleibt man dabei und kann sich mitunter intensiver, tiefer mit seinen Gefühlen beschäftigen.

Das ganze hat übrigens schon auch etwas mit Ihnen zu tun 🙂 Sie spüren zwar die Gefühle der anderen, dafür können Sie nichts, oder anders ausgedrückt, das ist eine Gabe, die Sie haben. Aber Sie können entscheiden, wie Sie damit umgehen und parallel dazu Ihre Mitte, Ihre Standfestigkeit stärken.

Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weitergeholfen zu haben,

herzliche Grüße aus Wien,
Olivia Wollinger

Und Frau P. schrieb mir dann noch zurück:

Hallo Frau Wollinger!

Vielen Dank für Ihre prompte und ausführliche Antwort!

Ich werde versuchen, in Richtung Erdung, meine Mitte finden, mich an Positives anzukoppeln,… zu arbeiten.

Mit Abstand betrachtet ist folgendes nämlich nicht fair: Mir passiert es manchmal, dass ich auf genau jene Personen wütend bin, denen ich eigentlich helfen wollte. Denn unbewusst mache ich diese dann für meine Energielosigkeit verantwortlich und verlange auch noch, dass sie verstehen, warum es mir nicht gut geht. Und das ist eindeutig zu viel verlangt.

Vielen Dank für Ihre wertvolle Arbeit, nur weiter so! Ich denke, dass Ihnen viele Frauen sehr sehr dankbar sind!

P.S. Kennen Sie die „Open Focus Methode“ von Les Fehmi? Ist meiner Meinung nach eine tolle Übung, um sich selbst spüren zu lernen. Könnte vielleicht auch was für die eine oder andere Ihrer Klientinnen sein?!

Nochmals vielen Dank für die Antwort und liebe Grüße,

P.

und ich antwortete schließlich:

Liebe Frau P.,

mir fällt dazu noch eine Hypothese ein: Vielleicht erwarten Sie darüber hinaus Dank oder Stärkung des Selbstwerts?

Überspritzt formuliert, vielleicht erwarten Sie, dass man zu Ihnen sagt: „Tausend Dank, dass du dich für mich aufgeopfert hast, du bist die Beste, ohne dich würde es nicht gehen, nur mit Deiner Hilfe habe ich es geschafft. Danke dass du am Leben bist. Und du bist nicht nur die Beste sondern auch noch die Schönste, das wollte ich dir schon lange mal sagen.“

Hier könnte das Thema der Co-Abhängigkeit vielleicht interessant sein. Wir assoziieren damit meistens die Co-Abhängigkeit von Angehörigen von Alkoholikern, doch Co-Abhängigkeit geht viel weiter. Es gibt hier ein dünnes Buch, das es meiner Meinung nach lohnt zu lesen: Co-Abhängigkeit: Die Sucht hinter der Sucht von Anne Wilson Schaef.

Bei der Lektüre des Buches muss man sich allerdings darauf einstellen, dass die Autorin ein Fan von den anonymen Alkoholikern ist, ich bin mir nicht sicher, inwieweit dieses Konzept auf Esssucht anwendbar ist, da habe ich keine Erfahrungswerte, darüber hinaus sollte man sich bewusst machen, wann das Buch geschrieben wurde, nämlich 1986, damals war es Pionierarbeit.

Die Open Focus Methode kannte ich bisher nicht, es gibt so viele sinnvolle Methoden, am besten passt immer diejenige, die im Moment stimmig ist und wo man das Gefühl hat: Ja, das bringt mich weiter!

In diesem Sinne wünsche Ihnen alles Gute und vielleicht sehen wir uns ja mal in meiner Praxis zu einer EKT,
Olivia Wollinger

Weiterlesen:

  • Blog von Iris Lasta: www.gesund-sensibel.at
  • YouTube Video zum Thema: Hat Hochsensibilität etwas mit Trauma zu tun?