Gestern erreichte mich folgender online Kommentar von Frau e. zum Artikel: Realismus am Weg aus der Esssucht
hallo,
ich bin gerade verzweifelt. seit 2 jahren bin ich nun schon auf dem wirklichen weg aus der esssucht (nachdem ich vorher schon 8 jahre darunter gelitten habe und meine versuche in der therapie darüber zu sprechen meist abgeblockt wurden). ich habe eine gruppentherapie (für essgestörte) von etwas über einem jahr und einen klinikaufenthalt in einer psychosomatischen klinik (nicht spezifisch für essgestörte) hinter mir. nach dem klinikaufenthalt ging es mir knapp drei monate sehr gut und dann noch ungefähr drei monate gut. ich hatte enrgie, fühlte mich wohl in meiner haut, aß normal und nahm dadurch tatsächlich auch etwas ab, ganz ohne diät, bis sich das zu viele essen wieder einschlich. wie lange dauert es denn noch bis es endlich vorbei ist und vor allem, müsste es nach dieser zeit nicht schon durchgestanden sein? habe das gefühl mich zurück anstatt nach vorne zu bewegen. essanfälle treten wieder vermehrt auf und ich esse fast jeden tag auch ohne ea zu viel bin von einer tiefenpsychologisch fundierten in eine verhaltenstherapie gewechselt, was auch deutlich besser ist und besuche eine selbsthilfegruppe für essgestörte. versuche wirklich alles was ich gelernt habe umzusetzen und trotzdem…hast du vielleicht noch irgendwelche tips? weiß einfach nicht wie es weiter gehen soll .
Hier meine Antwort dazu:
Liebe e.,
zunächst einmal schicke ich Dir ein paar tröstende Gedanken.
und noch ein paar.
Ja, manchmal ist das echt zu verzweifeln, wenn man etwas so hart will und das Gefühl hat nicht weiter zu kommen.
Hast Du schon folgende Artikel gelesen? Die könnten hier ganz gut passen:
Wenn sich nichts tut am Weg aus der Esssucht
Esssucht zu überwinden ist komplex weil in ihr die große Ambivalenz steckt:
Ich hasse sie so sehr
UND
ich brauche sie so sehr.
Deswegen ist das „einfache“ loslassen unmöglich. Wie in der Geschichte mit dem Balken im obigen Artikel: Wir müssen langsam lernen unsere Kräfte zu stärken.
Wir können das Wetter nicht ändern. Es wird immer wieder Phasen geben, in denen es stürmt und regnet, doch wir werden lernen damit anders umzugehen als mit essen. Aber das dauert.
Ich weiß, das waren jetzt noch keine konkreten Ratschläge, aber es ist so so so so so wichtig, diese Esssucht zu verstehen. Sie ist da, weil sie uns hilft mit der Komplexität des Lebens umzugehen. Es ist viel einfacher, auf „alles“ belastende mit Essen zu reagieren als mal mit Wut, mal mit Trauer, mal mit Angst, mal mit Unsicherheit, mal mit Müdigkeit, …. umzugehen. Es ist einfacher zu fressen als seine wahren Bedürnisse zu erkennen und zu denen zu stehen. Es ist einfacher zu fressen als kleine oder große Änderungen im Leben zu vollziehen.
Wir bewegen uns meiner Meinung nach übrigens niemals zurück. Wir haben einfach ein Muster (in dem Fall Esssucht) und es gibt kürzere oder längere Phasen, in denen wir neu agieren und dann greifen wir wieder auf unser Muster zurück. Also kein Rückschritt sonder einfach sein Muster haben solange bist es nicht mehr notwendig ist.
Tja, die Dauer…. Also ich erinnere mich, dass ich 3 Jahre voll in der Esssucht gesteckt bin (davor ein paar Jahre latent), bis ich draufgekommen bin, was ich habe. Ich habe danach begonnen an mir zu arbeiten.
Ab dem Zeitpunkt hat es 4 Jahre gebraucht bis zum letzten Essanfall und … das ist wichtig: danach noch mal gut 4-5 Jahre bis ich meine Identität vollkommen jenseits der Esssucht gefunden hatte. (das heißt nur weil kein Essanfall da ist heißt das noch nicht, dass die Esssucht ganz weg ist)
Relativ gut leben mit der Sucht konnte ich leben nach ca. 2 Jahren nach dem Zeitpunkt der Entdeckung. Damit meine ich, dass es zwar nicht lustig war, aber nicht mehr so bedrohlich, mit von hinten attakierend.
Und das ist extrem wichtig am Weg aus der Sucht: Die Sucht ist da, und ich tue alles damit es mir besser geht, aber ich kann momentan damit leben wie sie ist. Also nocheinmal: Es geht um Akzeptanz der Sucht UND GLEICHZEITIG darum, sich zu heilen. Klingt wie ein Widerspruch, ist aber keiner. Man braucht auch keine Angst zu haben, dass man stehen bleibt am Weg, nur weil man seine Essanfälle akzeptiert. Genau das Gegenteil passiert. Mit der Akzeptanz sinkt der Druck und dadurch steigt die Kraft die man hat um sich zu heilen.
Es ist extrem wichtig, sich für die Sucht zu entscheiden, statt gegen sie zu kämpfen UND trotzdem an sich zu arbeiten und weiter am Weg zu bleiben und sich zu heilen. Zu verstehen, zu fühlen was das heißt ist sehr sehr schwierig, aber auch sehr sehr wichtig.
Ich versuche es nochmal in anderen Worten: Es geht darum, dass ich von den Essanfall nicht von hinten befallen werde. Nicht jedes Mal von neuem überrascht werde. Das kostet so viel Kraft! Sondern sage: OK, Essanfall. Ich mag Dich zwar gar nicht habe, aber ich weiß, dass ich Dich brauche, also habe ich Dich eben. Ich weiß, dass Du mich noch länger begleiten wirst. Also rechne ich mal damit, dass Du wieder kommen wirst, solange bis ich Dich nicht mehr brauche. Momentan kommst du offensichtlich so und so oft pro Woche, OK, damit rechne ich mal. Das macht mich zwar nicht froh, aber ich versuche Dich in Liebe anzunehmen.
Es geht darum, ehrlich zu sich zu sein und liebevoll. Statt sich immer noch eins drauf zu hauen, mit sich zu schimpfen weil man „es noch immer nicht kapiert hat“. Esssucht verlangt danach zu lernen, freundlicher mit sich umzugehen. Es ist ein Schrei der Seele.
In Begleitung bist Du ja schon, das ist sehr gut. Sehr gut auch, dass Du darauf achtest, dass Dich die Therapie weiter bringt. Man kann niemals „alles“ gelernte umsetzen. Man setzt das um, was gerade passt. Das reicht! Wenn unsere Workshop Teilnehmerinnen 5% vom gelernten mitnehmen, sind wir schon hoch zufrieden! Es geht also auch hier wieder um innere Einstellung, nämlich Perfektionismus zu reduzieren.
Interessant sind weiters körperorientierte Dinge iSv Körpertherapie, weil es bei der Esssucht um den Körper geht. Da gibt es ein breites Angebot. Wichtig ist es, dass es jemand ist, der Deine Grenzen wahrt. Denn gerade bei Esssucht geht es stark darum wieder Vertrauen in den Körper zu finden und das dauert.
Die große Klammer über allem drüber ist die Selbstliebe. Je mehr Selbstliebe desto weniger Esssucht.
Ich hätte Dir jetzt wirklich gerne ein 10 Punkte Programm präsentiert, doch leider gibt es das nicht.
Vielleicht brauchst Du einfach mal nur eine Pause vom ständigen an Dir arbeiten. Das ist nämlich auch wichtig, von Zeit zu Zeit. Diese Phase muss nicht lange brauchen, vielleicht 2-4 Wochen, ganz bewusst auf alles pfeifen, ganz bewusst mal raunzen dürfen, ganz bewusst mal kein Selbsthilfebuch lesen und dann danach weitermachen mit neuer Kraft.
Vielleicht hier der wichtigste Rat: Sei lieb zu Dir, denn Du stehst Dir am nächsten und Du brauchst Dich in der Krise am aller meisten.
Ich hoffe, Dir damit ein wenig weitergeholfen zu haben.
Liebe Grüße.
Olivia
Ich kann sehr gut verstehen, was Frau e. so verzweifelt macht. Mir geht es da oft sehr ähnlich, nach 8 Jahren mit Essanfällen und Bulimie (und vorher auch schon lange latent Problemen mit dem Essen)und mittlerweile auch in Therapie, verläßt mich oft auch die Geduld und Zuversicht.
Da ist es sehr tröstlich zu hören, dass es auch bei dir Olivia etliche Jahre gedauert hat, auch wenn man sich das heute nicht mehr vorstellen kann, da du sehr selbstsicher und gefestigt wirkst. Aber das gibt irgendwie auch viel Hoffnung, dass das offensichtlich möglich ist.
Viele Dinge aus deinem Blog kommen mir sehr bekannt vor, allen voran die Tatsache, dass man die Essanfälle einerseits so hasst und auch dann wieder so braucht und Panik entwickelt beim Gedanken an ein Leben ohne Essanfälle.
Nach so vielen Jahren scheint es manchmal unmöglich mit den ‚echten Gefühlen‘ umzugehen und vorallem hat man verlernt, sie überhaupt wahrzunehmen.
Essanfälle zu akzeptieren und sich nachher auch noch nicht dafür zu beschimpfen, ist wohl eines der schwierigsten Dinge für mich, verstehe ja irgendwie das Prinzip dahinter aber weiß nicht, wann ich das schaffen werde.
Auf jeden Fall, danke für den Blogtext, hoffe, das er auch der Anfragenden, so wie mir, ein bisschen geholfen hat.
Liebe N.,
ich danke Dir für Dein Posting auf meiner Webseite! Ich freue mich immer sehr, wenn ich gelesen werde, das motiviert mich mehr zu schreiben :-))
Mach Dir keine Sorgen um das Schaffen. Das ist in der Zukunft. Das wird schon. Ganz bestimmt. Und Du kannst Dir jetzt ja auch noch gar nicht vorstellen, was dann sein wird, wie Du sein wirst und so.
Konzentrier Dich auf Dein jetzt und auf das was Du schon erreicht hast 🙂 Also weiter machen und weiter machen mit dem üben echte Gefühle zu spüren.
Alles andere wird sich von selbst richten 🙂
Liebe Grüße!
Olivia
[Anmerkung: N. und ich kennen uns von einem aivilo Workshop]
Liebe Olivia,
Vielen herzlichen Dank für deine ausführliche Antwort schon mal. Leider habe ich bis jetzt keine Zeit gefunden ausführlich zu antworten, werde das aber so bald wie möglich tun! Schon mal so viel, deine Antwort tat unheimlich gut und der Vorschlag mit der Pause klingt entlastend 🙂
Liebe Grüße e.
Hallo Olivia!
Vielen Dank für deine nette Antwort.
Denke, dass viele Leute deinen Blog lesen, aber ist halt auch manchmal eine Überwindung ein Kommentar zu schreiben. Ich habe auch ein bisschen überlegt, aber so viele Dinge in dem Blog haben genau die Punkte getroffen, die mich beschäftigen, Sorgen machen, meine Hoffnung sind,.. dass ich doch mich entschieden habe, zu schreiben.
Was mich vielleicht am meisten getröstet hat, war die Tatsache, dass es bei dir von dem Zeitpunkt an, an dem du angefangen hast, an dir zu arbeiten, noch etliche Jahre bis zum Ende der Essanfälle gedauert hat und dann noch einmal etliche Jahre, bis du wirklich sicher in dir warst.
Denn ich habe irgendwie schon den Anspruch in mir, dass jetz,t wo ich erkannt habe, dass ich ein Problem habe und daran arbeite, es möglichst schnell gehen sollte, und der letzte Essanfall auch gleichzeitig das Ende der Esssucht bedeuten muss.
Da hat deine Antwort doch etliches an Druck genommen, dass das bei anderen auch nicht so war.
Sich keine Sorgen zu machen ist ganz schön schwierig, aber ich werde es versuchen, liebe Grüße, N.
Liebe Olivia,
Wie bereits gesagt, vielen vielen Dank!!! Deine Antwort hat mich getröstet, gestärkt und beruhigt. Wie N. auch schon sagte, es tut sehr gut zu wissen das man selbst nicht die Einzige ist bei der es so lange dauert, im Gegenteil, dass es normal ist. Heute hatte ich Selbsthilfegruppe und habe dort von meinen derzeitigen Schwierigkeiten und auch von der Hilfe durch dich und diese Seite erzählt. Ich habe den Mädels den Tipp gegeben sich hier doch mal umzuschauen wenn man droht sich selbst wieder runter zu machen, zu hassen, zu verurteilen etc.sie waren sehr interessiert und dankbar für diesen Tip. Die beiden von dir empfohlenen Blogeinträge hatte ich schon gelesen, vielen Dank dafür! Deine Antwort lese ich mir nun immer wieder gerne durch und fühle mich besser danach. Es tut gut Tips von jemandem zu bekommen die das alles hinter sich hat, versteht wie man denkt und fühlt und dadurch auch die besten Ratschläge geben kann. Kein Therapeut, selbst wenn er noch so gut ist, kan wirklich nachvollziehen wie es sich anfühlt und was wirklich hilft. Deine Ratschläge fühlen sich sofort tröstend, gut und richtig und vor allem machbar an. Sie treffen die zerbrechliche Seele und helfen sie zu stärken. Es sind nicht nur stupide Handlungsstrategien, sondern Ratschläge mit viel Wärme und Verständnis. DANKE!!!
Gerade lese ich auch dein Skript, was ich glücklicherweise direkt am Tag nach meiner Überweisung und nach einem unangenehmen EA bekommen habe 🙂 Sowohl deine Antwort hier, als auch das Skript haben mich erst mal wieder zurück ins richtige Leben geholt 😉
Liebe N.
Genau das was du sagst ist es. Man hat den Anspruch, wenn man doch schon lange Zeit erkannt hat das man Esssüchtig ist und daran arbeitet und vor allem, wenn man schon lange sehr gute Phasen hatte (meine längste knapp vier Monate), dann muss es doch mal aufhören. Und die große Angst, dass durch die „Rückfälle“ alles wieder verloren ist, bzw. das man sich zurück statt vorwärts bewegt…Auch ich werde versuchen mich nicht zu sehr zu sorgen, dass klappt warscheinlich mal mehr, mal weniger gut 😉
Der Hinweis auch bezüglich der Therapie den Perfektionismus zu reduzieren hilft mir sehr. Ich bin nämlich ein Mensch der in einigen Bereichen (Job, Sport, Essen…)zu krankhaftem Perfektionismus neigt. Im Job konnte ich ihn schon das ein oder andere Mal runter schrauben. Auch beim Essen und beim Sport gelingt es mir das ein oder andere Mal.
Warscheinlich sind das die Fortschritte die du meinst Olivia?
Danke für die Hilfe und den regen Austausch hier und das ich endlich einen Blog gefunden habe, der mir aus der Seele spricht 🙂
Wenn ich das Skript zu Ende gelesen habe, werde ich auch dazu nochmal eine gesonderte Rückmeldung geben.
Liebe Grüße e.
Liebe Frau Wollinger,
Sie haben mich damit heute so passend getroffen, dass ich Ihnen einfach kurz schreiben muss. Vielen Dank für Ihre regelmäßigen aufbauenden Worte, ich freue mich jedesmal, wenn ich Ihren Absender in meinem Posteingang lese. [Anmerkung OW: Diesen Blog kann man abonnieren] Ich freue mich schon auf unseren Termin nächste Woche.
Liebe Grüße und schönen Abend
A.
Danke an den erhalt dieser website