Wer an Esssucht leidet hasst v.a. die regelmäßigen Essanfälle. Doch so paradox das für die Betroffenen auch klingen mag: Die Esssucht ist da, weil sie gebraucht wird. Sie hat einen Sinn, sie hilft den Betroffenen, mit ihrem Leben und mit ihren Problemen fertig zu werden. Sehr anschaulich beschreibt dies Anita Johnston in ihrem Buch: „Die Frau, die im Mondlicht aß“
Stell dir vor, du stehst im Regen am Ufer eines tosenden Flusses. Plötzlich rutscht die vom Wasser aufgeweichte Böschung unter dir ab. Du fällst ins Wasser und wirst von den Stromschnellen mitgerissen. All deine Bemühungen, dich über Wasser zu halten, sind vergeblich und du wirst wohl ertrinken. Doch zufällig schwimmt ein großer Balken vorbei, an den du dich klammern kannst. Dieser Balken hält deinen Kopf über Wasser und rettet dir das Leben. An den Balken geklammert, schwimmst du stromabwärts und gelangst schließlich wieder in ruhigeres Wasser. In der Ferne erblickst du das Ufer und du versuchst, dorthin zu schwimmen. Doch das gelingt dir nicht, weil du dich immer noch mit einem Arm an den dicken Balken klammerst und mit dem anderen Schwimmzüge machst. Wie ironisch, dass das, was dir das Leben rettete, dir jetzt im Wege steht. Am Ufer stehen Menschen, die deinen Kampf mit ansehen und brüllen: „Lass den Balken los!“ Aber das kannst du nicht, denn du hast kein Vertrauen in deine Fähigkeit, es bis zum Ufer zu schaffen. (…) Wenn man von einer Essstörung geheilt werden will, muss man diejenigen Fähigkeiten ausbilden, die man braucht, um den Balken zu ersetzen. (…) Und sehr, sehr langsam und vorsichtig lässt du den Balken fahren und übst ein paar Schwimmzüge. Wenn du drohst unterzugehen, klammerst du dich rasch wieder an. Dann lässt du den Balken wieder los und übst Wassertreten und wenn du müde wirst, hältst du dich wieder fest. Nach einer Weile versuchst du, einmal um den Balken herumzuschwimmen, dann zweimal, dann zehnmal, zwanzigmal, hundertmal, bis du genügend Kraft und Vertrauen hast, um bis zum Ufer zu gelangen. Erst dann kannst du den Balken vollständig loslassen.
Für den Weg aus der Esssucht ist es also sehr wichtig, die Essanfälle als Warnlampe zu begreifen, als Zeichen, das etwas nicht stimmt im Leben. Das gilt sowohl bei Bulimie als auch beim Binge Eating (d.h. Essanfälle ohne Erbrechen). Manchmal weißt man, was das ist, viel öfters weiß man es nicht. Seine Essanfälle zu aktzeptieren heißt nicht, dass man ihnen damit sagt, dass sie ewig bleiben sollen. Seine Essanfälle zu akzeptieren heißt, mit ihnen zu arbeiten und auf sie zu hören statt gegen sie zu kämpfen. Es heißt zu akzeptieren, dass sie gehen werden, wenn es Zeit ist und sie nicht mehr gebraucht werden. Dieses Umdenken braucht seine Zeit. Wenn es vollzogen ist, ist ein sehr großer Schritt aus der Esssucht geschafft.
Hinterlasse einen Kommentar